Bad Alchemy 117 – Rigo Dittmann

Die monty-pythoneske SOCIETY FOR PUTTING THINGS ON TOP OF OTHER THINGS um­spielt einen auf Game Changer (Umland 52) in Gestalt von sechs spielfreudigen Dorfhel­fern. Die mehr oder weniger geregelten Spiele ausgedacht haben sich Julia Brüssel (vio­lin), Jan Klare (reeds), der bei ‚Umland ECM‘ auch noch Alex Morsey am Bass und Simon Camatta an Drums ins Spiel bringt, Oliver Siegel (synth), Maria Trautmann (trombone), überwiegend aber Florian Walter (ebenfalls reeds), während Achim Zepezauer (electro­nics) mit seinem 11 ½ min. Würfelspiel ‚Umdorfing‘ zuletzt aufs Zeitlimit pfeift. Egal ob ‚Bingo‘ oder ‚Scharade‘ genannt, es ist jeweils temperamentvolle Aleatorik unter dem Überbegriff ‚Mensch ärgere dich nicht‘. Voller Kontraste, nicht nur von Geige und Po­saune, auch von beharrlich ostinatem Thrill und quicker Action, taktischem Stillstand und überraschender Wendung. ‚Siedler‘ z. B. ist ein in sich grummelndes und kreiselndes eintöniges Stakkato, das sublim ins Ziel glissandiert, Brüssels ‚Paraletto‘ ein gekürzeltes, murmeliges Fiedeln, Flöten und Quäken, das kurz innehält, und in lyrischem Bestreben tatsächlich zum Einklang findet. Eine Begegnung von Reeds und Posaune endet in durch Schnee knurschenden Schritten. Siegels ‚6 hoch 6‘, das erst bis zum Cut crescendiert, wird vom Hoketus zum Halteton mit finalem Schnippchen. Klangfarben sind Trumpf – Bassklarinette, Fagott, auf Zuruf wird mental zwischen Tango, Soul, Punk, Folk, aber nicht der Stil gewechselt. Um nichts anderes geht es als um ‚Explorationslust‘, zu der Zepezauer mit seinem von V-Effekten und Anarchie durchwirkten Traumspiel anstiftet und für Beifall orgasmischen Effekt verspricht. [BA 117 rbd]

Mit Bring You 10 Evergreens In Stereo (Umland 56) elstern sich Luc Ex an Bassgitarre, (statt Michael Vatcher) Onno Govaert an Drums und an Alto- & Basssax wieder Jan Klare – oder kurz: RKeT – mit diebischem Spaß durch ‚Am Misbehavin“, ‚I’m An Old Coward Out To Lunch‘, ‚Ozzy Ozbird Parker‘, ‚Ornette Hawkins‘, ‚Cadavervan‘, ‚In The Mud‘, ‚Copy-Pasta‘, ‚Clear Water Over Troubled Bridge‘, ‚House Of The Dying Sun‘ und ‚What A Wonder­ful Word‘. Und verdrehen natürlich mit den Worten auch die Töne so, dass selbst ihre Väter sie wohl kaum wiedererkennen könnten. Mit einem im röhrenden Basssax und der knurrig schrappelnden Bassgitarre anklingenden Spirit ähnlich Deep Schrott, doch auch im Mash-up mit Luc Klaasens Naked Wolf und Govaerts Jazzcoreverve mit Cactus Truck und den durch Gonzo Almeida aufgewühlten The Attic. Mit ‚verdrehen‘ meine ich: um­stülpen und mürbe klopfen wie einen Oktopus. Und kann RKeT damit nur ihre Freakshow-Tauglichkeit bescheinigen speziell für Ohren, die gerade erst durch Ed RosenBerg III bei Kilter basssaxistisch durchgepustet wurden. [BA 117 rbd]

Apropos ‚verdrehen‘ – mit 1000 spielt OCJ (Umland 58/Jazzwerkstatt) – mixed & mastered by Pierre Vervloesem – spielt 1000, also Bart Maris Spinifex-gewieft an Trompete, Wilbert de Joode gewohnt stupend am Kontrabass, Michael Vatcher an Drums und, zum Dritten, Jan Klare, nun an Altosax & Flöte, Hals über Kopf auf das JCO des Jazz Composers Or­chestra an. Aber statt Musik von Michael Mantler spielen sie, live in Gent bzw. Peitz, doch lieber eigene, kollektiv improvisiert oder von Klare komponiert. Merke: Eine Reise von tausend Meilen / Fängt unter deinem Fuße an (Daodejing). Wobei er bei ‚Towering Rock Melody Secluded Orchid‘ ein chinesisches Stück zu elegischer Katzenmusik dekonstruiert und mit ‚Hna Lone Tha‘ eins aus Myanmar prägnant umarrangiert zum mittelalterlichen Tänzchen mit Flöte und erst durchgepusteter und dadurch frischfröhlicher Trompete. Oh Rohingya, oh Scheiß-Junta, vor Reisen nach Myanmar wird derzeit gewarnt. Auch wenn es das gar nicht bräuchte, werden Sax und Trompete, ob unisono oder separat, ob verzahnt oder konträr, ob als agil krähendes und gackerndes Tirili oder innig, ständig von surren­den Bassstrichen, plonkenden Stupsern, flickerndem Hagel und quicken Jabs oder Crashes animiert oder zumindest pointiert. In einer Bandbreite vom dringlichen ‚Dare ID‘ bis zum bedächtigen ‚Untranscendable‘ als nur zwei der von Klare vorgeformten und ringsum im Freispiel durchdeklinierten, mit virtuosen Ohrenzwickern markierten Möglichkeiten. [BA 117 rbd]

AUT TUDEI

Let’s put it out – this has a wide approach.

Free, ethnic, improvisation and architecture- a strange mix, that is a world of its own.

Recorded in East-Germany and Belgium – building and listening and leaving space.

Yes.

Jan Klare- as, fl

Bart Maris – trp

Wilbert de Joode- bs

Michael Vatcher- dr

Laboratory defining the sound of Umland

Bandportrait V Markus Türk

Türk oder wie ich einmal eine Soloplatte gemacht habe

Ausgangspunkt der Geschichte war wie so oft The Dorf, meine musische Ruhrheimat.
Wir waren im September 2020 eingeladen, mit der Band in Belgrad zu spielen, wo ich mit meinem Kumpel Tim Isfort bereits 2017 auf Einladung von Frank Baumann gespielt hatte, den ich bei Tim’s und meiner Konzertreise nach Minsk in Weißrussland kenngelernt hatte.

Frank hatte auch The Dorf eingeladen, aber die Reise musste wegen Corona abgesagt werden, was mich so traurig machte, dass ich dem unbedingt etwas entgegensetzen musste. Ich entschloss mich, in einer leerstehenden Drogerie am Grefrather Marktplatz, die meiner Tochter gehörte, drei Abende hintereinander Solokonzerte vor kleinem Publikum zu geben.

Erst nachdem ich das Info und die Einladungen geschrieben hatte, begann ich mir Gedanken über das Programm zu machen und schusterte mit einem Loop, einem Wassereimer und meinen gesammelten Instrumenten aus alten Kompositionen und freien Improvisationen einen Ablauf zusammen, zu dem Markus Maria Jansen Anlage , Licht und Kunst beisteuerte.
Es waren drei schöne, weinseelige Abende mit netten Menschen und alten Freunden, und einige fragten mich tatsächlich danach, ob es von dem Programm eine Aufnahme gäbe. Ich hatte das Projekt eigentlich als einmalige, auf drei Abende begrenzte Geschichte gedacht, aber dann ließ mich doch der Gedanke nicht mehr los, von dem Ding eine Platte zu machen, und ich fragte meinen alten Freund und Bandkumpel Markus Maria Jansen, ob er vielleicht Zeit und Lust hätte, in seinem „Dachapparat“ eine Soloplatte mit mir aufzunehmen und zu produzieren. Hatte er, und so packte ich irgendwann meine gesammelten Instrumente und Effektgeräte ins Auto, fuhr damit zum Lutherplatz nach Krefeld und schleppte das Zeug die vier Stockwerke hoch.

Ich hatte mir vorgestellt, die Stücke innerhalb von zwei bis drei Tagen einzuspielen und dann nochmal zwei Tage abzumischen, wie das bei Jazzplatten normalerweise so läuft, hatte aber die Rechnung ohne den Produzentenwirt gemacht. Schon bei der ersten Nummer fing er an, mich bestimmte Phrasen zwanzig mal hintereinander spielen zu lassen, bis er die perfekte Version hatte, aus der er dann Loops basteln konnte. Er schnitt die Stücke auseinander, setzte sie neu zusammen, liess mich singen, verfremdete die Stimme bis zur Unkenntlichkeit und machte unglaubliche Sachen mit meiner Musik. Insgesamt arbeiteten wir mehr als zwei Monate an der Platte, Markus Maria hat tatsächlich Nächte lang durchgemischt und gefummelt, bis wir ein Ergebnis hatten, das wir beide richtig geil fanden. Markus Maria machte dann auch noch das Artwork, und Peter Körfers hat die Aufnahme meisterlich gemastert.

Das Repertoire bestand zum Teil aus alten Stücken von mir, zum Teil habe ich sie extra für die Platte komponiert, und zum Teil sind sie im Studio relativ spontan entstanden.
Ein Rezensent, der mich schon seit meinen frühen Tagen kennt, schrieb sinngemäß, dass die Platte wie eine Reise zu den verschiedenen Stationen meines Lebens sei, von den frühen Blaskapellenzeiten, die sich mit der Begeisterung für balkaneske Hochzeitsbands mischt, über die Begeisterung für Don Cherry und Codona, die ich in den frühen 80ern im alten Domicil in Dortmund gesehen hatte, wonach ich stundenlang im Schneidersitz orientalische Skalen auf meiner Taschentrompete übte, über die wilden Hinterwälderpunkzeiten, wo ich die Kunst des Dreiakkordespielens auf der E-Gitarre kultivierte, zu dem Hardbop-Studium ín Arnheim, wo meine Mitmusiker vor Konzerten mein Didgeridoo versteckten, weil ihnen das zu esoterisch peinlich war, meine tiefen Eindrücke von den Reisen in ferne Länder, bis hin zu meiner großartigen Band „The Dorf“, die mir in den letzten 16 Jahren so viele unvergessliche und magische Momente beschert hat und mich mit meiner Aufnahme gnädig in den Familienschoß ihres Umland Records – Labels aufgenommen hat, worüber ich mehr als glücklich bin.

Laboratory defining the sound of Umland

Bandportrait IV Schörken/ Wittbrodt (Release Herbst `22)

Hanna Schörken – Stimme
Emily Wittbrodt – Cello

Es kracht nicht brutal und nie wird es ganz still. Das was Emily Wittbrodt (Cello) und Hanna Schörken (Stimme) zusammen erschaffen, ist eher eine minimale Annäherung an einen gemeinsamen Puls. Es wird erforscht und in Sound verwandelt. Was? Genau? Feinheiten erkunden, Sprache entwirren und verstricken, auf den Punkt kommen, aufgreifen und verwerfen.
Emily Wittbrodt und Hanna Schörken spielen seit 2019 zusammen und lernten sich im Ruhrgebiet kennen. Ihre Musik entsteht an der Schnittstelle von freier Improvisation, Folk, Noise und Poetry. Musikalische Einflüsse der beiden Musikerinnen stranden in diesem Projekt an unterschiedlichen Punkten: Vorbilder wie Jeanne Lee oder Björk, sowie der Lyriker E.E. Cummings und eigene Texte werden von dem Duo neu interpretiert und in sehr eigene Wege gelenkt. Die Kommunikation der Instrumente bleibt stets transparent und direkt, nah beieinander und gleichzeitig unabhängig voneinander.
Keep it real!

Foto: Marion Beyer

Laboratory defining the sound of Umland

Bandportrait III Leone Sauvage

Umland ist eine Soundfabrik mit eigenem Label und Konzertreihen, aber auch eine Black Box, von der niemand weiß, wie sie funktioniert, die aber in ihren musikalischen Resultaten zunehmend Qualität und Format entwickelt.

In dieser Reihe stellen wir in einigermaßen regelmäßigen Abständen Bands aus dem Umland vor, die sich zusammen gefunden haben, um in die Tiefe zu gehen und zu untersuchen, was sie wie wann warum machen.

music – link

LEONEsauvage begann 2015 als eine Reaktion auf die harte soziale Realität der Metropole: LEONEsauvage sollte ein Ensemble sein, dass ein Gegenpol zu diesem Leben mit zu viel Arbeit, zu viel Härte und zu wenig Platz für Gemeinschaft und Solidarität sein. LEONEsauvage sollte eine Musik bieten, dass die Zuhörer*innen von dieser Härte zeitweise befreien sollte. 2022 möchte sie die Band erstmalig in Deutschland ins Leben rufen.

Nach Victor Turner haben Aufführungen, wie Rituale, eine transformative Kraft. Sie schaffen neue soziale Wirklichkeiten. In den Konzert des Ensembles kommt Musik, Tanz und Performance zusammen und wird zu einem starken sozialpolitischen Moment der Performativität. In der Ekstase des Konzertrituals kann das Publikum zeitweise zu einer Grenzen-ärmeren Gemeinschaft werden. 
Ritualen wohnt die Möglichkeit inne, Momente der Selbst-Transzendenz zu erleben und damit das Leben zeitweise zu erleichtern oder Übergangsphasen im Leben zu bewältigen. Durch diese Selbst-Distanzierung, die im Ritual durch eine körperliche Reproduktion einer festgelegten Handlung stattfindet, erwächst Platz für kollektive körperliche Erfahrungen und Gefühle und damit eine Rückversicherung und Rückführung in die Gemeinschaft. Die Gemeinschaft ist in unserer aktuellen Gesellschaft zunehmend am Verschwinden. Die Musik, oder die im Musikritual gemeinte Verbindung aus Musik, Tanz und Performance bietet dementsprechend die Möglichkeit auf künstlerischer und sozialer Ebene zu handeln. Der Musik kommt damit eine tröstende oder stützende Rolle zuteil. Der Philosoph Byung-Chul Han schreibt, Kunst habe generell das Potenzial zum Ritual. „Kunst hat ihren Ursprung im Fest. (…) Es ist das Wesen der Kunst, dass sie dem Leben eine Haltbarkeit verleiht“.